Wie ein Marsmensch bewegt sich der Mann durch die Werkhalle. Seine Schutzkleidung macht schnelle Bewegungen unmöglich: ein hitzeabweisender, silbrig glänzender Umhang, ein Halsschutz, feuerfeste Handschuhe und ein massiver Helm mit feuersicherem Sichtfenster. Tapsig nähert sich der Mann dem Brennofen, erfaßt mit einer langen Stange ein Objekt nach dem anderen, das auf einem fahrbaren Tisch vor ihm liegt, und schiebt es in den Brennofen.
Was er da brennt, sind Kuhglocken. Der Marsmensch gehört zum Handwerker-Team der Kuhglocken-Manufaktur Chocalhos Pardalinho im Örtchen Alcáçovas in Portugals Region Alentejo, etwa 130 Kilometer südöstlich von Lissabon. Früher gab es hier ein Dutzend Betriebe und mehr, die sich auf die 2000 Jahre alte Kunst der Kuhglocken-Herstellung verstanden. Das Wissen um diese komplizierte Technik wurde früher vom Vater auf den Sohn vererbt, schriftliche Aufzeichnungen gibt es nicht. Heute existiert nur noch dieser eine Betrieb. Die Mannschaft – hier arbeiten tatsächlich nur Männer! – stammt schon längst nicht mehr aus einer Familie, so wie es früher Tradition war, sondern ist bunt zusammengewürfelt.
“Hier lernt und macht jeder alles!”
sagt einer der Arbeiter.
Die UNESCO Listen des Immateriellen Kulturerbes
Dass die Kuhglocken aus Alcáçovas heute nicht mehr so gefragt sind wie früher, liegt auf der Hand: Auf der einen Seite werden Herden heute vielfach mit Chips gehütet, und wenn doch noch Kuhglocken gekauft werden, stammen sie meist aus industrieller Fertigung. Damit die Handwerkskunst überlebt und nicht ausstirbt, hat die UNESO diese 2015 auf eine der Listen des immateriellen Kulturerbes gesetzt. Davon gibt es drei: die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit, die Liste des dringend erhaltungsbedürftigen Immateriellen Kulturerbes und das Register Guter Praxisbeispiele. Die portugiesischen Kuhglocken-Manufaktur steht auf der Liste des dringend erhaltungsbedürftigen Immateriellen Kulturerbes.
Die EN 2 – Portugals Route 66 mit dem Mietwagen bereisen
Nach Voranmeldung kann die Manufaktur besichtigt werden. Sie liegt an der Estrada Nacional 2 , der längste Straße Portugals und längsten Nationalstraße Europas, auch Portugals Route 66 genannt. Diese beginnt im Thermalbad Chaves im äußersten Norden Portugals und endet nach 740 Kilometern in Faro an der Algarve. Die N2 wurde vor über 70 Jahren angelegt, Teile davon gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert, andere liegen auf ehemaligen römischen Handelswegen. Fast stündlich wechselt das Landschaftsbild an der Route, die vier Gebirgszüge und elf Flüsse tangiert. Um die Nationalstraße touristisch zu vermarkten, haben sich 35 Gemeinden zum Projekt „N2 Rota Estrada Nacional“ zusammengeschlossen. Für Autofahrer hat OLIMAR eine zweiwöchige Mietwagen-Rundreise im Programm, in Anlehnung an das berühmte amerikanische Vorbild „Portugals Route 66“ genannt. Auf Wunsch kann die Reise auch verkürzt werden.
Auf dem Weg locken immer wieder Städte und Städtchen zum Zwischenstop oder für Abstecher, so auch Alcáçovas. Bis auf die Manufaktur ist der Ort touristisch recht unbedeutend. Nur einmal blickte die (europäische) Welt kurz auf ihn: 1479, als mit dem Vertrag von Alcáçovas der seit fünf Jahren tosende Kastilische Erbfolgekrieg beendet wurde. Die Manufaktur mit über hundertjähriger Tradition liegt in einer modernen Werkshalle. Bei der Besichtigung sehen Urlauber zuerst eine große Verkaufsfläche mit Kuhglocken, kleineren Glocken für Schafe und Katzen, Schmuckglocken und anderen Souvenirs…
Vom Eisenblech zur Glocke – die Produktionsschritte
Faszinierend ist es zu beobachten, wie die Glocken entstehen. Zuerst schneidet ein Mitarbeiter aus Eisenblech Rechtecke in der gewünschten Glockengröße aus, die kalt mit Metallschere und Hammer zu becherförmigen Gebilden verarbeitet werden. Kleine Stücke aus Kupfer und Zinn werden um die Becher gelegt, die dann von einem Mantel aus Ton und Stroh umgeben werden. Jetzt kommt der Marsmensch zum Zuge, der die so präparierten künftigen Kuhglocken bei 1200 Grad Celsius brennt.
Nach dem Brennen tritt die ganze Mannschaft wie ein Ballett an, um im gleichen Takt die glühendheißen, ummantelten Kuhglocken an langen Stangen hin- und herzurollen. Dadurch wird eine gleichmäßige Verschmelzung des Metalls erreicht. Es zischt, wenn dann das Material zum Abkühlen in kaltes Wasser geworfen wird. Wenn anschließend der Lehm-Stroh-Mantel angeschlagen wird, kommen die goldgelben Glocken zutage. Sie werden getrocknet, poliert und mit Klöppel versehen. Und dann kommt der Höhepunkt: Der Meister stimmt den Ton der Glocke mit unendlich vielen kurzen Hammerschlägen ab – eine Aufgabe, die Fingerspitzengefühl, Geschick und ein perfektes Gehör erfordert. Und dann ist der Weg für die Kuhglocken von Alcáçovas frei – hinaus in die ganze Welt.
Kuhglockenmanufaktur 🙂 Wirklich ein toller Beitrag. danke!
Ein sehr informativer Beitrag. In dieser Manufaktur war ich 2017 auch einmal zu Gast. Wirklich toll!